Wohnst du noch oder lebst du schon?

Benedikt Geulen  bg   7. Januar 2021

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“, dieser sprichwörtlich gewordene Slogan des weltgrößten Möbelhauses wird gerade variiert zu „Blätterst du noch oder klickst du schon?“.

Sieben Jahrzehnte, also zwei Generationen lang hat er die Menschheit begleitet, der auflagenstärkste Katalog der Welt. Seine größte Verbreitung betrug im Jahr 2016 stolze 200 Millionen Exemplare. Nun wird er eingestellt. Was keineswegs bedeutet, dass es dem Möbel-Giganten IKEA schlecht ginge. Vielmehr haben sich in diesem speziellen Jahr 2020 ganz offensichtlich die Online-Zugriffe auf dessen Angebot noch einmal vervielfacht und den gedruckten Katalog somit endgültig zu einem Nostalgieprodukt degradiert.

Kein Grund zur Sorge, es werden künftig tonnenweise Papier und Portokosten in Millionenhöhe gespart. Und dann wird dieses gesparte Geld natürlich konsequent in den Ausbau digitaler Services und in neue Apps investiert, die „dem Kunden ein noch besseres IKEA-Erlebnis bieten“, wie es in der Presseerklärung des Unternehmens heißt. Es geht ums Erlebnis, längst nicht mehr ums Produkt. Investiert wird in Online-Plattformen und das Erreichen hoher Zugriffszahlen, was mehr bringt als eine Investition in hochwertigere und nachhaltigere Produkte.

Das Schöne am gedruckten IKEA-Katalog, wie auch an den bereits Jahre zuvor eingestellten Versandhaus-Großwerken von Neckermann, Quelle und Otto war tatsächlich dieses überwiegend interesselose und gerade darum angeregte Herumblättern. Man konnte beim entspannt-beiläufigen Studium dieser Periodika, um es einmal mit einem Arno Schmidt-Zitat auszudrücken, prima sein „Gehirn in die Falten jener Zeit legen“. Mit anderen Worten: einfach, kurzweilig und informativ konnte man damit den jeweiligen Zeitgeist auf sich wirken lassen. Ein Vergnügen, das beim Herumklicken auf Firmen-Homepages oder beim Wischen über Smartphone-optimierte Apps irgendwie nicht so recht aufkommen will - obwohl das ja auch einem Zeitgeist entspricht …

Das Abendland geht natürlich mit dem Ende des IKEA-Katalogs nicht unter. Es war nur so eine Meldung, die im Herbst wie ein folgerichtiger Kommentar zu diesem eigenartigen Jahr 2020 erschien.

Bemerkenswert waren in diesem Jahr der begründeten pandemischen Ängste und daraus resultierenden Einschränkungen auch eine Menge anderer Dinge. Zum Beispiel die Beobachtung, dass gedruckte Bücher seit dem Frühjahr für viele Menschen offenbar wieder deutlich an Wert gewonnen haben. In Zeiten häufig verordneten Zuhause-Arbeitens und ständig Bildschirm-gebundener Kommunikation ist es vielen eine regelrechte Wohltat, sich mit einem gedruckten Buch von der Dauerdigitalisierung zu erholen und ein wenig zu entschleunigen. Wohltuend ist ebenso die Tatsache, dass in diesem Jahr nicht nur große Onlinehändler mehr Bücher frei Haus geliefert haben, sondern auch viele inhabergeführte Buchhandlungen berichten, wie groß die Solidarität und Kauflust ihrer Kundinnen und Kunden in diesen Zeiten war und ist.

Für den Herbst 2021 kündigt IKEA übrigens ein großes Buch als Hommage an die 70-jährige Erfolgsgeschichte des eigenen Print-Kataloges an. Das hat doch etwas Beruhigendes. Mal sehen, ob das Werk dann auch im stationären Buchhandel erhältlich sein wird.